DIE FLIEGE

Matthias steht am Fenster, den Blick nach draußen auf den Gartenfeldplatz gerichtet. Ich frage mich, was es dort besonderes zu sehen gibt. Um festzustellen, ob es zu regnen aufgehört hat und er einen Spaziergang machen kann, reicht doch ein kurzer Blick nach draußen aus.
Die Polizei stünde vor dem Haus, murmelt er. Das ist in einer Stadt nicht ungewöhnlich. Die Polizei macht ihre Arbeit, nichts weiter. Seine Bartstoppeln kratzen auf meiner Handfläche, als ich ihn sanft vom Fenster wegdrehe und frage: »Und der Regen?«
»Hat aufgehört.« Die Gardine fällt wie ein Schleier vor das Fenster zurück, meinen Kuss für ihn vor der Welt verbergend. Aus Matthias’ Mund strömt warmer Atem. Die kleine Schorfstelle kitzelt an meinen Lippen. Ich würde wirklich gerne mit ihm am Rhein spazieren gehen oder einfach für immer so stehen bleiben, in seiner Umarmung, seine Hand über meine Wange streichend und alle Pflichten vergessen, aber das ist leider nicht möglich. Aneta wird bald kommen und ich muss ihr zeigen, was alles von der Party noch sauber zu machen ist. Und danach muss ich gleich in die Klinik los. Ich habe Daniel versprochen, seinen Nachmittagsdienst zu übernehmen.
An der Wohnungstür stehend schaue ich Matthias’ hinterher, wir lächeln und winken uns noch einmal zu, bis seine Schritte im Treppenhaus verhallen. Nur das Wissen, dass wir uns bald wieder sehen werden, macht mir den Abschied erträglich – Tag für Tag.
Die Eingangstür zur Straße fällt ins Schloß, fast automatisch drücke ich die Wohnungstür daraufhin zu, an mich haltend, um nicht ans Fenster zu eilen und Matthias beim Überqueren des Gartenfeldplatzes zuzusehen. Wir hatten uns versprochen, dass unsere Liebe füreinander nicht zur Selbstaufgabe führen solle, sondern wir müssen autonome Individuen bleiben, ja das müssen wir. Doch manchmal ist das gar nicht so einfach.
Bis Aneta kommt, bleiben noch ein paar Minuten. Etwas frische Luft auf der Dachterrasse werden mir gut tun. Matthias hat ja gesagt, es hätte aufgehört zu regnen.
Ich gehe in die Wohnung zurück, am Plattenspieler vorbei, den Monika und Sabine als Geburtstagsgeschenk für Matthias gestern mitbrachten. Er hat sich richtig darüber gefreut, Mensch, ein Telefunken Musicus 105V Produktionsjahr 1964, hat er ausgerufen, und ihn stolz hier auf den Nierentisch abgestellt. So etwas habe ihm noch in seiner Sammlung gefehlt.
Eigentlich wollte er Sabine gar nicht einladen, sie sei ein abgeschlossenes Kapitel in seinem Leben, sagte er. Aber ich schlug ihm vor, ihr dennoch eine Einladung zu schicken. Auch ein abgeschlossenes Kapitel bleibe Teil des eigenen Lebens und ich wolle doch so viel wie möglich an seinem teilhaben. Bei der Begrüßung ist Sabine etwas steif gewesen. Sie hat auch anders ausgesehen als erwartet, irgendwie spröder, verglichen mit den Fotos, die mir Matthias nach langem hin und her von ihr einmal gezeigt hatte. Sie schien sich zu Beginn nicht so wohl zu fühlen, obwohl die alten Studienfreunde auch da gewesen sind, Harald, Klaus und Martina. Und dann ist sie plötzlich rausgegangen, während des Desserts, das Essen lobend, sie müsste nur kurz frische Luft schnappen.
Vielleicht hat sie trotz des Lobs etwas vom Buffet nicht vertragen, denn sie ist ziemlich lange weg gewesen. Ich hätte sie darauf ansprechen sollen. Doch als sie zurückgekommen ist, war bereits diese dumme Diskussion über Gefühle im Gange. Ich weiß gar nicht, wie es dazu kam. Auf einmal dozierte Leschinski darüber, dass es nur neuronale Aktivitäten gebe und Monika hielt dagegen, das muss sie als Psychologin ja irgendwie auch. Was hat sich Leschinski bloß dabei gedacht? So etwas gehört nicht auf eine Geburtstagsparty, besonders nicht dieses Thema. Doch das führt jetzt zu weit.
Rekursionen sind aufzulösen.
Im Vorbeigehen fahre ich mit den Fingern über die gerippte Ausbuchtung des Deckels, der gleichzeitig der Lautsprecher ist. Die aufgerauten Plastikrippen schaben an meinen Fingerkuppen, die davon seltsam aber angenehm warm werden. An der Reibungskraft kann es nicht liegen, die Einwirkzeit ist dafür viel zu kurz. Irgendwie habe ich den Drang immer und immer wieder darüber zu fahren, wie albern, es ist doch nur totes Plastik – wenn auch erstaunlich gut erhalten.
Stattdessen sollte ich besser mein Medikament einnehmen, bevor ich auf die Dachterrasse gehe – das darf ich nicht vergessen. Einmal hatte ich es versuchsweise abgesetzt und danach ging es mir richtig schlecht. Wenn der Punkt erreicht ist, an dem der Hirnstoffwechsel kippt, gibt es kein Zurück mehr. Dann setzt der Prozess der Selbstaufzehrung des Körpers ein:
Morbus Suarez – eine seltene Erbkrankheit, die endemisch in Gebieten Mittel- und Südamerikas auftritt. Wenigstens muss ich nicht spritzen, das ist der Vorteil, wenn man bitterarm im Hochland aufgewachsen ist. Dort gibt es nichts anderes außer die Knospen des ›arbol del cielo‹. Wenn man Glück hat, schlagen sie an, wenn nicht, stirbt man innerhalb weniger Wochen. Ich hatte Glück.
Matthias glaubt, die Knospen seien ein besonders schrecklich schmeckender Tee, von dem mir meine Eltern regelmäßig ein Päckchen zuschicken. Ich lasse ihn in dem Glauben. Die rote Dose macht sich ja auch gut zwischen den Tee- und Kaffeebehältern. Schon beim Öffnen strömen die Knospen ihren herben Duft aus. Man legt sie unter die Zunge und wartet, bis der Speichel sie vollständig aufgelöst hat – so, als seien sie für uns Menschen gemacht. Zuerst wäscht der Speichel die Bitterstoffe aus, diesen Moment muss man überwinden, dann wird es besser, dann lösen sich die Transalkaloide aus dem Knospenkern.
Ich stelle die Dose hinter die Tees zurück, mein Blick fällt auf den Zuckerstreuer daneben. Was ist das für ein schwarzes Ding darin? Das ist doch eine Fliege. Wie ist die denn da rein gekommen? – vermutlich durch das Streurohr, einen anderen Weg gibt es nicht. Das untere Ende ist nicht mehr vollständig von Zucker bedeckt. Irgendwie hat sie es geschafft da hinein zu krabbeln und jetzt weiß sie nicht mehr, wie sie herauskommt. Sie bewegt sich kaum – einzelne Zuckerkristalle hängen an ihren behaarten Beinen. Wie es sich wohl anfühlt, bis zu den ersten Beinsegmenten in Zucker zu versinken, süßer, scharfkantiger Sand? Vielleicht ist es für eine Fliege auch gar nicht schlimm, ihre Fußendglieder sollen widerständig sein und sogar Zucker schmecken können. Dennoch muss sie da raus. Wer weiß, was sie alles an ihrem Körper dranhängen hat. Ich nehme sie am besten mit nach oben auf die Terrasse und lasse sie dort frei.
Der Regen hat Pfützen auf dem Terrassenboden hinterlassen und auf der Bank, auf der ich so gerne sitze, stehen kleine Wasserlachen. Ich lehne mich gegen den Schornstein, der wie ein zu Stein erstarrter Finger zum Himmel aufragt. Von hier hat man einen Blick weit über die Dächer der Stadt – wie zu Hause im Hochland, nur dass die Dächer dort Berggipfel sind. Im Tal, wo unser Dorf lag, konnte man manchmal die Netze glitzern sehen, in denen die Knospen des »arbol del cielo« zum Trocknen ausgelegt wurden.
Die Fliege ist auf das Streurohr des Zuckerstreuers gekrabbelt. Das ist eine gute Gelegenheit, sie in die Freiheit zu entlassen. Dummerweise muss ich zuerst noch den Deckel aufschrauben, doch die Fliege bleibt auf dem Streurohr hocken und dreht sich im Kreis mit. Auf diese Weise kann ich sie mit dem Deckel einfach aus dem Streuer ziehen und sie in die leichte Aprilbrise halten. Doch statt wegzufliegen bleibt sie schwerfällig auf dem Streurohr hocken, komisches Ding.
Die Sonne bricht durch die Wolken hindurch. Das Licht lässt den schwarzen Körper der Fliege matt glänzen und die Flügel durchsichtig wie Pergamentpapier werden. Man sieht die Äderung darin. Eine Windbrise hebt die Flügel an, na endlich, jetzt fliegt sie los, der Freiheit entgegen. Doch sie fliegt nicht richtig, sie sackt in ihrer Flugbahn nach unten und prallt gegen das kleine Fenster neben der Terrassentür. Von dort fällt sie auf die Fensterbank herunter, auf den Rücken, sie summt und dreht sich wild im Kreis. Ich beuge mich über die Fensterbank. Das ist nicht die Freiheit, das sind die letzten Sekunden vor dem Tod. Ob die Fliege davon weiß? Erlebt sie den Schmerz und die Angst davor, dass sie gleich ausgelöscht sein wird? Vermutlich tut sie das auf ihre Weise. Sie ist schließlich keine Maschine. Man geht davon aus, dass ihr winziges Gehirn, dieser kleine Nervenknoten in ihrem Kopf, eine primitive Form der Aufmerksamkeitsfokussierung erzeugen kann - vielleicht auch ihrem eigenen Tod gegenüber. Sie strampelt wild mit ihren behaarten Beinchen, die vor wenigen Augenblicken noch in nahrhaftem Zucker gesteckt haben. Ich betrachte die Agonie, die so anders scheint als bei uns Menschen. Aber wir sind der Fliege darin ähnlicher, als wir wahrhaben wollen. Beide, Mensch und Insekt tanzen auf ihre Weise den wilden Tanz des Todes – bis zum bitteren Ende.
Die Fliege hört auf sich wild im Kreis zu drehen, die Beinchen ziehen sich zusammen. Ein Tropfen weißer, zäher Flüssigkeit drückt sich aus dem After. Bei uns Menschen ist die Flüssigkeit schwarz, schwarz wie Kohle – und statt aus dem After quillt sie bei uns aus dem Mund, wir erbrechen schwarze, zähe Flüssigkeit bevor wir sterben. Bei Patienten mit einem Glioblastom ist es ein Zeichen für das finale Stadium – als wäre die Flüssigkeit der Vorbote dafür, dass anschließend das Leben aus dem Körper entweicht. Doch das ist nur ein Bild, es entweicht nichts, der Organismus bricht einfach zusammen. Auch darin sind sich Mensch und Fliege gleich, sie hören einfach auf zu leben. Was zurückbleibt ist tote, organische Materie – und die führt man dahin zurück, wo sie hergekommen ist. Ich schnippe die Fliege auf die Hand, trage sie zur Terrassenbrüstung und lasse sie zwischen die frisch gepflanzten Geranien in die Erde fallen. Unter mir auf dem Gartenfeldplatz spielen Kinder. Autofahrer fahren zur Boppstraße hoch. Sie verschwenden keinen Gedanken an ihr Ende, das so seltsam ist – denn alles, was am Ende von uns bleibt, ist Kompost. Das ist alles, was bleibt: Kompost.
Es wird Zeit, sich dagegen zu erheben.