Die Verarbeitung wurde gestartet.
Nervensystem und Sensoren sind intakt. An den Sensoren liegen keine Signale an, im Nervensystem entstehen die negativen Aktivitätsmuster dazu. Ich bin umgeben von Stille und Dunkelheit. Meine Augen sind geschlossen, das Gehör ist wie versiegelt. Alles riecht und schmeckt nach Erde. Auf meinem Körper liegt das Gewicht von mehreren Atmosphären. Ich kann mich nicht mehr bewegen. [1] Jede Form körperlicher Orientierung ist ausgelöscht. Ich weiß nicht einmal, ob Tag oder Nacht ist.
Die Sauerstoffsättigung fällt um 0,02 % pro Minute. Bei einer geschätzten Verarbeitungsdauer von 4,32∙10^5 Sekunden wird sie am Ende der Verarbeitung 87,61 % betragen, weit oberhalb des kritischen Medians. Bis dahin bin ich ein vegetatives Wesen, ein Wesen, das, sobald die Randbedingungen erfüllt sind, wieder aus dem Ruhezustand erwachen wird. [2]
Der Sauerstoff ist der meiner letzten Atemzüge, bevor mich Dunkelheit und Stille in sich begruben. Anders als die Dunkelheit ist die Stille jedoch nicht vollkommen. Ich höre einen beständigen, hochfrequenten Ton, einen Ton, der in mir selbst entsteht und der sich so der Stille von außen entzieht. Viele Menschen würde dieser Ton verrückt machen – aus Unwissenheit. Man muss die Bedeutung des Tons verstehen, er bedeutet, dass alles seinen vorhergesehenen Gang geht. Das BIOS [3] verarbeitet Erinnerungspaket um Erinnerungspaket. Man muss nur warten, bis die Verarbeitung abgeschlossen ist. Die auditiven Nervenzellen im Cortex werden davon angeregt, sie ändern ihre Aktivitätspotentiale, ohne dass ein Signal aus der Außenwelt an den Sensoren anliegt.
Das ist der tieferliegende Grund, warum man darüber den Verstand verlieren kann, es ist nicht der Ton selbst, sondern die Folgerung, die sich daraus ergibt. Wenn Hörerlebnisse nur an Aktivitäten des Gehirns gebunden sind, ohne dass äußere Schallereignisse am Gehör anliegen und zu allen Hörerlebnissen eine entsprechende Hirnaktivität beobachtet werden kann, dann sind es die Aktivitäten im Gehirn, die letztlich zu Hörerlebnissen führen und nicht die äußeren Schallereignisse.
Dieser Befund ist auf alle Klassen von Erlebnissen übertragbar. Jeder Erlebnisklasse kann ein entsprechendes aktives neuronales Subnetz zugeordnet werden. Auch für emotionale und kognitive Prozesse ist das möglich, sie sind ebenfalls auf neuronale Subnetze zurückführbar. Ohne Gehirn gibt es folglich keine Wahrnehmungen, keine Gefühle, keine Gedanken, all das, was das Ich ausmacht verschwindet, wenn die Aktivitäten im Gehirn erlöschen. Mit dem Gehirn stirbt das Ich, das Selbst. Letztere sind lediglich verschleiernde Ausdrucksweisen eines neurobiologischen Phänomens. Mein Tod ist der Tod meines Gehirns. Ein Leben danach ist logisch unmöglich. Darin sind wir alle gleich, unabhängig von unserer Erzeugung.
Von dieser Erkenntnis gingen wohl auch diejenigen aus, die mich in die jetzige Lage gebracht haben. Aber ich bin nicht tot – ich ruhe, ich verarbeite, dafür bin ich ausgebildet worden, ursprünglich, eine Entität, die ihre Hirnaktivitäten und biologischen Prozesse in großem Maße kontrollieren kann, selbst und gerade in Extremsituationen. Diesen Unterschied haben sie übersehen. Und es sind wie so oft die Details, die entscheidende Konsequenzen nach sich ziehen.
Ich will keine Rache. Rache ist ein vulgäres Konzept – man zerstört, ohne die Verhältnisse, die zu den Rachegefühlen geführt haben, zu verändern. Ich will Transformation - eine Veränderung der Verhältnisse derart, dass das, was mir angetan wurde, nie wieder wird geschehen können. Diejenigen, die den Unterschied nicht erkennen, sollen es meinetwegen Rache nennen. Sie werden es so oder so nicht überleben, unabhängig von seiner Benennung.
Anmerkungen
© 2018 Armin Müller